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Sonntag, 18. Dezember 2011, 19:30 MEZ
Sturm, Starkniederschlag West-, Mitteleuropa 16.12.2011 Satellitenbild: 16.12.2011, 12:53 UTC, NOAA-19 VIS Quelle: B. J. Burton |
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Zum Abschluss einer äußerst wechselhaften und phasenweise stark windigen ersten Dezemberhälfte 2011 mit mehreren Stürmen zog gut eine Woche vor Weihnachten ein kräftiges Sturmtief über West- und Mitteleuropa hinweg. "Joachim" sorgte von Frankreich über das südliche Mittel- bis nach Osteuropa verbreitet für schwere Sturm- und einzelne orkanartige Böen in den Niederungen, auf den Bergen für Orkanböen bis 184 km/h. Der Sturm richtete zahlreiche kleinere, jedoch kaum größeren Schäden an.
Wetterlage und Entwicklung Das ursprüngliche Tief, aus dem "Joachim" später hervorgehen sollte, entstand am Abend des 13.12.2011 (UTC) vor der Ostküste der USA. Dabei geriet eine flache, sich über den Westatlantik nach Norden ausweitende tropische Tiefdruckzone unter die stark diffluente Vorderseite eines von Westen heranschwenkenden Höhentroges. Großräumige Hebungsprozesse zwangen die feuchtwarme Luft - die pseudopotenziellen Temperaturen in 850 hPa, ein Maß für den Energiegehalt der Luft, lagen zu dieser Zeit in der dortigen Region bei über +60 °C - zum Aufsteigen, der Luftdruck am Boden fiel. Am 15. um 0 UTC konnte das namenlose Tief mit einem Kerndruck von knapp unter 995 hPa einige hundert Kilometer südöstlich von Neufundland diagnostiziert werden.
Für die weitere Entwicklung von entscheidender Bedeutung war die Ausbildung eines Viererdruckfeldes mit dem Tief im Südwesten, einem ausgeprägten Tiefdrucksystem über dem Nordostatlantik sowie zwei Hochdruckgebieten mit Schwerpunkten über Nordostkanada und bei den Azoren. Diese Konstellation bedingte durch Zusammenströmen der über das angesprochene Tief in die Zirkulation eingebrachten feuchtwarmen Luft einer- und polarer Kaltluft andererseits die Formation einer markanten Luftmassengrenze, an der sich die Temperaturgegensätze immer weiter verschärften. Schließlich schob sich von dem Tief eine Rinne über die Luftmassengrenze hinweg nach Osten vor, aus der mehrere kleine Tiefzentren hervorgingen - als östlichstes "Joachim".
Als Folge der Vertiefung verschärften sich auf der Südseite des Tiefs die Luftdruckgegensätze zu dem Hoch im Süden enorm, was die Entstehung eines Starkwindfeldes nach sich zog. Über der Mitte Frankreichs konnten am 16. um 6 UTC in 850 hPa Mittelwinde von 100 kt (183 km/h) analysiert werden. Bis dahin hatte sich das Starkwindfeld bereits bis in den Südwesten Deutschlands vorgeschoben, im Tagesverlauf verlagerte es sich unter leichter Abschwächung ostwärts. Die maximalen mittleren Windgeschwindigkeiten traten im Bereich der Warmfront von "Joachim" und knapp dahinter in einer vertikal stabilen Luftschichtung auf. Entsprechend lagen die gemessenen Windgeschwindigkeiten in den Niederungen und im Flachland weit unterhalb der Werte in der freien unteren und mittleren Troposphäre. Erst mit Passage der Kaltfront konnten am Abend im Süden Bayerns die großen Windgeschwindigkeiten bis zum Boden durchgreifen; zusätzlich kam dort eine Verstärkung durch den "Leitplankeneffekt" an den Alpen zum Tragen.
Kräftige Böen erfassten die Westküste Frankreichs am späten Abend des 15. Um 0 UTC am 16. meldete die Station Le Talut mit 131 km/h eine erste Orkanböe. Im Laufe der Nacht traten auch in den mittleren Teilen Frankreichs immer öfter Sturm-, jedoch nur einzelne schwere Sturmböen auf (z. B. Châlons Vatry 100 km/h). Am frühen Morgen griff der Sturm auf den Südwesten Deutschlands über. Um 4 UTC war es dem saarländischen Berus vorbehalten, die erste schwere Sturmböe in tieferen Lagen zu übermitteln (90 km/h). Am Morgen wurden dann auch entlang des Oberrheins Sturm- und schwere Sturmböen registriert (Lahr 90 km/h, Baden-Airpark 89 km/h). Dort erreichten die Böen bereits im Laufe des Vormittags ihr Maximum (Rheinstetten 94 km/h um 8 UTC), während die höchsten Windgeschwindigkeiten in der Mitte und im Südosten Deutschlands erst am Nachmittag beobachtet wurden. Dabei blieb es bei schweren Sturmböen, an keiner einzigen Station im Tiefland - von Südbayern abgesehen - konnte Windstärke 11 oder mehr verzeichnet werden. Dort allerdings wurden am frühen Abend dann örtlich sogar Orkanböen beobachtet (z. B. Altenstadt 122 km/h).
Ungleich stärker mit Orkanböen blies der Wind wenig überraschend auf den Gipfeln der Mittelgebirge und der Alpen. Der 1.493 Meter hohe Feldberg im Schwarzwald brachte es auf 169 km/h, auf dem Wendelstein wurden in 1.835 Metern Höhe 176 km/h gemessen. Der Brocken im Harz (1.142 m) und das Weinbiet im Pfälzer Wald (557 m) lagen mit 144 km/h beziehungsweise 137 km/h nahezu gleichauf, den gesamtdeutschen Höchstwert sicherte sich die Zugspitze (2.962 m) mit 184 km/h.
In der Schweiz wurden vor allem in den etwas höheren Lagen des Jura und der Voralpen Böen in Sturm- und örtlich Orkanstärke gemessen. Im 611 Meter hoch gelegenen Rünenberg im Kanton Basel-Landschaft erreichten die Böen Geschwindigkeiten bis 143 km/h, es war dort die höchste Spitzenböe seit Messbeginn im Jahre 1984. Noch kräftigere Böen meldeten etwa der Säntis (2.500 m, 176 km/h) und der Chasseral (1.599 m, 174 km/h). Ähnliche Spitzenböen wie in Deutschland und der Schweiz konnten auch in Österreich und im nahen Osteuropa festgestellt werden. In den tiefen Lagen blieb es häufig bei zweistelligen Böenwerten (z. B. Wien-Schwechat/Flgh. 90 km/h, Prag-Ruzynĕ/Flgh. 94 km/h), auf den Alpengipfeln wehte der Wind in Orkanstärke (z. B. Patscherkofel, 2.254 m, 162 km/h). Neben dem Wind galt das Augenmerk den anhaltenden und ergiebigen Niederschlägen, die südlich des Tiefkerns bis in die Hochlagen als Regen, nördlich davon teilweise bis ins Tiefland als Schnee fielen. Massive Warmluftadvektion auf der Vorderseite des Tiefs erzeugte über großräumige Hebungsvorgänge ein ausgeprägtes Wolken- und Niederschlagsgebiet, das zeitweilig etwa die Größe Deutschlands annahm. Wie bei den Spitzenböen stachen auch bei den gemessenen Niederschlagsmengen die Mittelgebirge mit hohen Werten hervor; in Freudenstadt im Schwarzwald fielen innerhalb von 24 Stunden bis zum 17., 6 UTC 50 mm, innerhalb von 48 Stunden sogar 84 mm. Bäche und kleinere Flüsse führten überdurchschnittlich viel Wasser, es kam jedoch nur zu kleineren Überschwemmungen. Vielmehr bereiteten im Norden Deutschlands Schneefälle und glatte Straßen Probleme, so bildete sich beispielsweise am Hannoveraner Flughafen bis zum frühen Abend eine 2 cm mächtige Schneedecke aus. Auf dem Brocken fiel binnen 24 Stunden bis zum 17., 6 UTC mehr als ein halber Meter Neuschnee.
Sturmtief "Joachim" richtete in Deutschland, der Schweiz und Österreich zahlreiche kleinere, jedoch kaum größere Schäden an und fiel damit weniger heftig aus als von Warndiensten und Medien erwartet. Im Vordergrund standen übliche Sturmschäden wie umgestürzte Bäume und umgewehte Verkehrsschilder, die einige Straßen blockierten. An einem Schulzentrum in Balingen riss der Sturm ein Blechdach weg, verletzt wurde niemand. In Freiburg wurde eine Radfahrerin verletzt, die infolge einer heftigen Böe stürzte und ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Auf der Bahnstrecke zwischen Schwenningen und Trossingen entgleiste ein Regionalexpress nach einem Zusammenprall mit einem umgestürzten Baum. Auch hierbei wurde niemand verletzt. Wegen der gleichen Ursache entgleiste bei Tremelan im Schweizer Kanton Bern ein Regionalzug, hierbei trugen drei Menschen leichte Verletzungen davon. Die Deutsche Bahn stellte in den betroffenen Regionen den Betrieb teilweise ein, einige Weihnachts- und Wochenmärkte zum Beispiel in Karlsruhe, Friedrichshafen, Chemnitz und Kempten blieben aus Sicherheitsgründen geschlossen. Beeinträchtigt wurde auch der Flugverkehr am größten deutschen Flughafen Frankfurt/Main sowie am Saarbrücker Flughafen.
In der Nacht war im Westen Frankreichs in rund 400.000 Haushalten der Strom ausgefallen, überwiegend in der Bretagne. Vor der französischen Küste lief der Frachter "TK Bremen" auf Grund, Öl floss ins Meer. Die Behörden lösten Umweltalarm aus. Die 19 Mann starke Besatzung konnte per Hubschrauber gerettet werden. Text: CE
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